Just als 2020 der erste Coronafall in Bayern durch die Medien ging, war ich in der Abtei Münsterschwarzach. Ich hatte den Jahreskurs „Benediktinisch leben“ gebucht und nahm an der ersten Einheit teil. Für die Vorstellungsrunde wurden wir gefragt, warum wir den Kurs gebucht hatten und welche Erwartungen wir damit verknüpfen. Meine Antwort lautete damals ganz rational: Weil der heilige Benedikt ein Meister des Maßes und der Ausgewogenheit ist und seine Regel hilfreich dabei ist, wieder Struktur in mein Leben zu bekommen! Fertig!
Gut, ich wollte auch insgeheim herausfinden, wie es Anselm Grün, der wohl berühmteste Münsterschwarzacher Mönch, es um Gottes Willen schafft, mit einer Schreibzeit von nur vier Stunden pro Woche über 300 Bücher zu schreiben?! Anders ausgedrückt: Er schreibt nur zweimal die Woche von 6 bis 8 Uhr und veröffentlicht damit ein Buch nach dem anderen. Sapperlot!!! Irgendwie muss das Leben nach der Benediktsregel für einen wahnsinnigen Effektivitätssprung sorgen! *_*
Benediktsregel als Lebensschule
Ich gestehe, dass ich ein kleiner Kontrollfreak bin und mir Chaos oder Unordnung in jeglicher Form zuwider sind. Ohne eine fein ausgeklügelte und frühzeitige Planung habe ich das Gefühl, völlig verloren zu sein. Nun habe ich während meiner Selbstständigkeit über die Jahre hinweg bemerkt, dass der kleine Kontrollfreak in mir desöfteren vor allem in beruflichen Stresssituationen nicht die Oberhand behielt. Beruflich durchaus schon, aber leider völlig zu Lasten des Privatlebens, das dann so gar nicht mehr strukturiert war und von der Selbstständigkeit regelrecht aufgefressen wurde. Arbeits- und Privatleben in ein und der selben Wohnung auszubalancieren, ist schon eine ziemliche Herausforderung.
Da ich mich für reine Zeitmanagementkursen nie erwärmen konnte, musste eine richtige Lebensschule her. Etwas, das geeignet ist, mich selbst ganzheitlich von den Zehen bis zum Scheitel, von morgens bis abends, sieben Tage die Woche, ja über das ganze Jahr hinweg neu aufzustellen. Da ich die Benediktsregel sowieso schon etliche Jahre kannte und in der Abtei Münsterschwarzach ein neuer Jahreskurs anstand, nahm ich diese Gelegenheit gerne wahr. Immerhin, dachte ich, habe ich dann auch ein Jahr Zeit, neue Rituale einzuüben und langsam in einen ausgeglicheneren Lebenswandel hineinzufinden.
Kopf oder Herz?
Zurück zur Vorstellungsrunde: Eine Teilnehmerin sagte damals überzeugt, das Ziel des Kurses wäre für sie, ein weites Herz zu bekommen. Wow! Im ersten Augenblick war ich richtig irritiert, ich fühlte mich fast düpiert. Kopf oder Herz??? Reduziere ich den heiligen Benedikt etwa gerade zu einer Fadensortiermaschine für verknäulte und verfilzte Lebens- und Arbeitszustände??? Die Antwort dieser Kursteilnehmerin kam mir plötzlich unendlich viel reifer und reflektierter vor als meine eigene.
Erst später in der ersten langen Lockdown-Phase dämmerte es mir, dass beide Antworten völlig zutreffend waren. Das schöne an so einem Jahreskurs ist, dass man zwischen den drei Einheiten viel Zeit zum Reflektieren hat. Man bekommt nämlich wöchentliche Impulse zugemailt, die manchmal wie Hausaufgaben sind: Lesen, nachdenken, schreiben, beten, reflektieren, ein geistliches Gespräch führen usw. Wichtig ist, die Benediktsregel immer aus der gerade aktuellen eigenen Lebenssituation, aus dem eigenen Kontext heraus zu lesen. Es ist gewissermaßen wie eine Interaktion einer uralten Regel mit meiner ureigene Lebenssituation. Und ja, das funktioniert auch in der heutigen Zeit gut, weil man beim Lesen merkt, dass Benedikt ein absoluter Menschenkenner war und seine Regel auch so formuliert hat. Man fühlt sich irgendwie über die Jahrhunderte hinweg angesprochen. Die Benediktsregel ist wie ein geistiger und lebenstauglicher Werkzeugkasten. Mich trieb damals diese Unordnung im Privat- und Arbeitsleben sehr um, deswegen kam auch der Wunsch nach ganzheitlicher Ordnung und Struktur auf. Benediktinisch leben bedeutet unter anderem also sowohl an der Selbstdisziplin zu arbeiten, um wieder in eine sinnvolle und ausgeglichene Lebensweise zurückzufinden, als auch den Weg hin zu einem weiten Herzen zu finden. In der Benediktsregel kann man für alles eine Antwort finden, übrigens auch unbequeme Antworten:
„Stehen wir endlich einmal auf! (…) Die Stunde ist gekommen, vom Schlaf aufzustehen!“,
BR Prolog, Vers 8
ist da zum Beispiel im Prolog zu lesen. Mit anderen Worten: Beweg jetzt endlich mal deinen Hintern! Raus aus dem Bett, runter vom Sofa. Jetzt wird nicht geträumt, kein Netflixen, hier wartet das richtige Leben, das gelebt werden will!!! *_*
Aber in der Regel sind auch sehr schöne menschenfreundliche Sätze zu lesen:
„(…) verlass nicht gleich voll Angst und Schrecken den Weg des Heils, der am Anfang nun einmal eng sein muss. Sobald man aber im klösterlichen Leben und im Glauben Fortschritte macht, weitet sich das Herz! (…)“
BR Prolog, Vers 48-49
Da steht es geschrieben, das sich weitende Herz, das nur auf anfangs engem Weg zu erreichen ist, wenn man nicht unbeständig und ein Hasenfuß ist. Es kommt nur auf den Wunsch an, Fortschritte in diese Richtung machen zu wollen, es ist nicht von einem vollständig weiten Herz die Rede. Benedikt spielt im Prolog seiner Regel gerne mit Gegensätzen, hier mit den Wörtern „Weite“ und „Enge“.
Und damit sind wir wieder bei meiner innerlichen Weite auf Maria Lindenberg, die sich ohne etwas zu machen, nur über das ständige Schauen in die Ferne und vielleicht auch über ein Mehr an körperlicher Bewegung neu eingestellt hat. War das eine Empfindung eines weiten Geistes? Oder einer weiten Seele? Man spricht ja oft in diesem Zusammenhang davon, dass die Seele Flügel bekommt:
„Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus und flog durch die stillen Lande als flöge sie nach Haus.“
Joseph Freiherr von Eichendorf; Mondnacht;
persönlich in memoriam an R. L.
Die Seele bekommt Flügel, wenn einem etwas anrührt. Ich glaube, dass das nur in einem kleinen Moment passiert und dass dieser kurze Augenblick wieder vorüber geht. Eine Empfindung. Auch die innere Weite auf Maria Lindenberg war wohl ein Empfinden. Eine Gefühl von geistiger Klarheit, Wachheit, Ruhe, das nicht wochenlang anhält.
Wenn Benedikt jedoch von einem Herz schreibt, das weiter wird, klingt das zumindest für mich nach einem lebenslangen Prozess. Vielleicht nach einem Weg hin zu einer Herzensruhe, zu mehr Gelassenheit, hin zu einem festen inneren Zentrum, das immer solider wird oder nach einer Zerstreuung schneller wieder aufgesucht werden kann. Und aus diesem immer solider werdenden Zentrum wird dann mit der Zeit auch ein augenblicklich richtiges Handeln möglich. Denn ein innerlicher Weg entspricht ja immer einem äußeren Weg. Richtig bedeutet dann, schneller aus diesem Zentrum agieren zu können. Mit Gott im Zentrum verbunden zu sein und aus seiner reinen Quelle zu schöpfen. Anselm Grün spricht in diesem Zusammenhang immer von dem inneren Raum in jedem Menschen, wo nur Gott Zutritt hat. Und das ist auch der Ort, an dem man mit Wörtern nicht mehr weiter kommt. Deswegen höre ich jetzt auf, zu schreiben.
Der heilige Benedikt und das weite Herz. Wie verstehen Sie ihn?