Was bedeutet eigentlich, wie ein Baum verwurzelt zu sein? Dazu gibt es unterschiedliche geistliche Ansätze. Wussten Sie übrigens, dass auch Bäume auf Wanderschaft gehen können? In diesem Beitrag geht es außerdem um Bilder, die im Kopf entstehen, wenn man etwas hört.
Ein neuer Podcast der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg (FVA) war der eigentliche Auslöser für diesen Blogbeitrag. Die Debatten um den Wald werden meist emotional geführt, oft auch von Menschen, die weder Hintergründe noch Zusammenhänge kennen. Jeder redet irgendwie mit. Aber eigentlich sollten wissenschaftliche Erkenntnisse oder der derzeitige Wissensstand als Basis jeder Diskussion herangezogen werden. Selbst wenn die Forschung kommuniziert, dass man noch nichts genaues weiß und viel Forschungsbedarf besteht, ist das eine Aussage und damit eine Basis. Die erste Podcast-Folge von „astrein“ behandelt die Klimaanpassung von Wäldern. Der Wald sei von jeher ein Symbol für Stärke und Beständigkeit, hieß es zu Beginn. Und die Wurzeln eines Baumes gäben Stabilität.
Örtliche Beständigkeit
Dieses Bild der Beständigkeit und Stabilität bringe ich sofort mit der Profess der Benediktiner zusammen, denn sie versprechen darin unter anderem örtliche Beständigkeit. In der Benediktsregel wird diese sogenannte stabilitas loci an drei Stellen erwähnt:
„Wenn er verspricht, standzuhalten und auszuharren, (…)“
BR 58,9.15.17
„(…) durch das Gesetz der Regel nicht mehr erlaubt ist, das Kloster zu verlassen (…)“
„Bei der Aufnahme verspricht er vor allen im Oratorium Beständigkeit, klösterliches Leben und Gehorsam vor Gott und seinen Heiligen.“
Benediktinerinnen und Benediktiner sind also zeitlebens an ihr örtliches Kloster und ihre Gemeinschaft gebunden. Sie sollen wie ein Baum Wurzeln schlagen. Der heilige Benedikt geht sogar noch einen Schritt weiter, denn er lehnt das ständige Umherschweifen, das die Wandermönche praktizieren, mit deutlichen Worten ab:
„Eine vierte Art von Mönchen ist die der sogenannten Gyrovagen. Diese treiben sich ihr Leben lang in den verschiedenen Gegenden herum und halten sich in den Zellen einzelner Mönche drei oder vier Tage auf; immer unstet, nie beständig, sind sie Sklaven ihres Eigenwillens und der Gaumenlust und sind in jeder Hinsicht noch verkommener als die Sarabaiten.“
BR 1.10-11
Wandermönch
Über diese Worte muss ich ehrlich gesagt ein wenig schmunzeln, denn zum einen sehe ich bildhaft einen heiligen Benedikt vor mir, der sich, während er gerade diese Zeilen schreibt, ganz gehörig aufregt. Zum anderen steckt in mir sowohl ein kleiner anständiger Mönch als auch ein kleiner unsteter Wandermönch. Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Vor zehn Jahren bin ich den Camino de Santiago gepilgert und war rund sieben Wochen unterwegs. Gerade dieses Unterwegssein war ein innerer Gewinn. Jeden Tag an einem anderen Ort zu übernachten, jeden Tag neu loszulaufen, immerfort. Noch heute liebe ich Streckenwandern mehr als Rundwanderungen oder Wanderungen, bei denen man abends wieder mit dem Bus zum gleichen Quartier zurückkehrt. Gleichzeitig kann ich die Erkenntnisse und Weisheiten der Wüstenväter gut nachvollziehen. Evagrius Ponticus schreibt eindrucksvoll:
Der Geist des Überdrusses
vertreibt den Mönch aus seiner Zelle,
wer aber Ausdauer besitzt,
wird allezeit Ruhe haben. (…)
Einen wohlverwurzelten Baum
erschüttert nicht die Gewalt des Sturmes,
und der Überdruss beugt nicht
eine stämmige Seele.
Ein herumstreunender Mönch
ist dürres Reisig in der Wüste.
Ein wenig ruht er sich aus,
und gegen seinen Willen wird er wieder herumgetrieben.
Ein umgepflanzter Baum,
trägt keine Frucht
und ein herumstreunender Mönch
trägt nicht die Frucht der Tugend.
Ein bekanntes Zitat der Wüstenväter lautet weiter: „Gehe in deine Zelle, sie lehrt dich alles!“ Ich glaube, dass beides, Ausharren an einem Ort und in seiner Zelle, und das Herumwandern zeitweise seine Berechtigung haben und wichtig sind. Im Wechsel bedingen sich beide Zustände. Irgendwann ist man in Santiago de Compostela angekommen und kehrt heim. Irgendwann ist die Reflexionszeit in der eigenen Zelle beendet und das tätige Leben wartet draußen. Wie ein immerwährender Zustandswechsel.
Der Baum, der wandert
Zurück zum FVA-Podcast, der den Zuhörenden noch ein weiteres Bild mit auf den Weg gibt: Das des wandernden Baumes. Hintergrund dieses Bildes war die Aussage, dass Arten auf den Klimawandel reagieren können. Bei Tieren kommt es zu Wanderbewegungen. Zum Beispiel wurde plötzlich ein Goldschakal, der an Wärme angepasst ist, in Baden-Württemberg gesichtet. Bäume oder Baumarten können natürlich nicht sofort ihren Standort wechseln. Auf plötzliche Störungen wie Hitze können sie nur kurzfristig reagieren, indem sie Laub abwerfen oder ihre Spaltöffnungen schließen, um die Verdunstung zu minimieren. Auch haben sie die Möglichkeit, das Wachstum zu verlangsamen. Interessant ist jedoch, dass auch Baumarten bei kontinuierlichen Klimaveränderungen durchaus migrieren können. Aber das dauert unendlich lange. Trotzdem mag ich dieses Bild vom wandernden Baum, gerade weil der Baum eigentlich das Sinnbild für Verwurzelung ist. Aber nichts ist für immer statisch. Der perfekte Text zu dieser von mir gefühlten Ambivalenz liefert gerade eine Dichterin:
„Man muss weggehen können und doch so sein wie ein Baum: Als bliebe die Wurzel im Boden, als zöge die Landschaft und wir ständen fest.“
Hilde Domin; aus ihrem Gedicht „Ziehende Landschaft“
Innere Verwurzelung
Im Grunde geht es wohl um eine innere Verwurzelung. Der Begriff „Religion“ wird gerne passend als „Wiederanbindung“ gedeutet, wenn es auch über die lateinischen, etymologischen Wurzeln verschiedene Meinungen gibt. Aber schon die Vorsilbe „re“ bedeutet im Lateinischen „zurück“. Man sagt auch oft „zurück zu seinen Wurzeln“. Zurück zum Ursprung, zum Anfang. Da entspringt neue Kraft, da findet man seine Kraft, sein wahres Wesen wieder. Ein Baum bindet sich über seine Wurzeln an Wasser und Nährstoffe an. Er verankert sich im Boden. Er zieht seine Stärke aus den Wurzeln. Werden die Wurzeln beschädigt, können Baumpilze eindringen. Besonders bei Stadtbäumen kommt dies öfters vor, wenn Erdarbeiten im Wurzelumfeld durchgeführt werden. Die Wurzel sorgt für Standfestigkeit und ist gleichtzeitig ein verletzliches Organ, weil es hauptsächlich im Boden, im Verborgenen liegt. Das wahre Ausmaß der Verwurzelung sieht man nicht, wenn man vor einem Baum steht. Man sieht nur die oberflächlichen Wurzeln. Das Bild einer Baumwurzel für die innere Verwurzelung heranzuziehen, ist für mich stimmig.
Der heilige Franziskus wanderte mit seinen Anhängern durch die Landschaft und predigte. Trotzdem war die Portiunkula-Kapelle unterhalb von Assisi sein Ausgangsort, sein Zentrum. Hier wurde auch das jährliche Mattenkapitel abgehalten. Franziskus sprach davon, dass der eigene Leib eine Mönchszelle sei. Und die Seele sei der Eremit, der in dieser Zelle lebt. Dieses Bild passt zu Paulus, der schreibt (1 Kor 3,16): „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ Und Kaplan Michael Todt sagte an Weihnachten im Kloster Arenberg in einer Predigt: „Die Krippe ist in uns, wir sind die Krippe!“ Alle Drei drücken damit aus, dass es eine innere Verwurzelung geben muss, die man mit sich trägt, auch wenn man sich von einem Ort zum anderen bewegt.
Vielleicht empfinden Sie ebenfalls eine Ambivalenz, wenn es um den Begriff „Verwurzelung“ geht? Sind Sie ein anständiger Mönch oder ein unsteter Wandermönch? *_* Schreiben Sie das gerne, wenn Sie wollen, unten in die Kommentare.
Quelle des Textes von Evagrius Ponticus: Wüstenväter - Apophtegmata Patrum (Übersetzung: Bonifaz Miller OSB)